Als der Künstler Reinhard Dietrich im Jahr 1979 einen Hausgiebel in der neu errichteten Rostocker Großwohnsiedlung Lichtenhagen gestaltete, konnte er nicht ahnen, dass er sich mit diesem in die politische Ikonographie Deutschlands einschreiben würde, entsprachen die als Mosaik angebrachten drei Sonnenblumenblüten doch gänzlich der kulturpolitischen Leitlinie der Honnecker-Ära, welche die politische Überformung architekturbezogener Kunst in Wohnvierteln ablehnte. Doch nach dem Ende der DDR wurde sein Kunstwerk schnell politisch überdeterminiert, symbolisiert doch nichts stärker die gigantische Welle rassistischer Gewalt, mit der Neonazis und andere Rassist*innen das wieder- und zwangsvereinigte Deutschland zu Anfang der 1990er Jahre überzogen als diese drei völlig harmlosen Sonnenblumen auf einem Hausgiebel in Rostock-Lichtenhagen. Bekanntermaßen attackierten im Spätsommer 1992 tausende von Rassist*innen tagelang das Sonnenblumen-Haus, in dem seit der Wiedervereinigung die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber für Mecklenburg-Vorpommern untergebracht war, mit Steinen, Flaschen und Molotow-Cocktails. Zeitweise gelang es ihnen gar, in das Haus einzudringen und dessen Bewohner*innen zu attackieren. Nur wie durch ein Wunder wurden bei diesem rassistischen Gewaltakt, der von weiteren tausenden Menschen beklatscht und angefeuert wurde, keine Menschen ermordet.
Für ihre Einzelausstellung Aus unseren Feuern hat die Künstlerin Jody Korbach nun Dietrichs drei Sonnenblumen aus Lichtenhagen in einer Größe von fünf auf zwei Metern mit Wertmarken nachgebaut. Pommes frites, Kaffee, belegte Brötchen, Schorle, Cola/Fanta und Bier bilden nicht nur in Märkchenform die Grundlage von Korbachs Mosaik, sondern all diese typischen Zutaten eines deutschen Volksfestes, waren auch in den Tagen der rassistischen Ausschreitungen in Rostock im Überfluss vorhanden. So sprossen in der unmittelbaren Umgebung des Sonnenblumenhauses während der rassistischen Hetzjagd Imbiss- und Getränkestände hervor, welche die Beteiligten mit einem nicht versiegenden Strom aus Bier und Bratwurst versorgten. In der medialen Berichterstattung wurde mitunter der Eindruck vermittelt, dass während der Pogrome eine Stimmung wie auf einem Volksfest geherrscht habe. Mit ihrem Nachbau von Dietrichs Sonnenblumen aus Wertmarken ebenso wie mit dem Schriftzug Hetzjagd in poppigen Leuchtreklamelettern knüpft Korbach nun an diese durchaus zweischneidige Einordnung der Ereignisse an und hinterfragt sie zur gleichen Zeit. Indem sie dieses mediale Narrativ auch in den von ihr verwendeten Materialien aufgreift, stellt sie es zugleich auf die Probe.
Ist die Erzählung, dass es erst der Volksfeststimmung bedurfte, damit die Pogrome dieses Ausmaß annahmen, letztlich nicht ziemlich entpolitisierend? War es nicht vielmehr der verbreitete Rassismus innerhalb der Bevölkerung, der – angeheizt durch politische und mediale Hetze – letztlich die Angriffe möglich machte? Bedurfte es dazu überhaupt des Alkohols? Andersrum gewendet kann man mit Korbachs Arbeit aber auch fragen, wie viel rassistische Gewalt bereits in der bierseligen Atmosphäre eines jeden deutschen Volksfests angelegt ist.
Mit dem Sonnenblumen-Getränkemarkenmosaik zeigt sich zentral die Methode, welche die Künstlerin in allen Arbeiten dieser Ausstellung anwendet. Es geht ihr um die Untersuchung von politischen Ikonographien vor dem Hintergrund der Frage, unter welchen Bedingungen Kunst überhaupt als politisch wahrgenommen wird. Dabei greift sie unterschiedliche Ansätze politischer Kunst auf, überträgt diese auf neue Materialien und collagiert sie mit scheinbar nicht zusammenpassenden Ikonographien aus anderen Traditionen.
So auch in der zweiten zentralen Arbeit der Ausstellung, die sich ebenfalls mit dem Spannungsverhältnis von Kunst, Alkohol und Politik beschäftigt. Unter dem Titel „Kommst du jetzt mit saufen, oder was?“, bezieht sich Korbach auf das Diptychon "Wo stehst Du mit Deiner Kunst, Kollege?" (1973) von Jörg Immendorff. Es stammt aus dessen maoistischer Phase, in der er einen sehr direkten und leicht verständlichen Malstil entwickelte. Das von Korbach referenzierte Bild zeigt links einen neo-avantgardistischen Künstler, der es sich mit Pop-, Op-, und Concept-Art gemütlich in seinem Atelier eingerichtet hat, während rechts durch eine geöffnete Tür eine KPD(AO)-Demonstration zu sehen ist, die sich – laut Banner – gerade dem Kampf „gegen Lohnraub - Arbeitshetze - Teuerung - Politische Unterdrückung“ widmet. In der Mitte fragt ein zweiter Künstler, welcher durch eben diese Tür das Atelier des Künstlers betritt, provokant: „Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?“.
Korbach übernimmt Immendorffs Komposition, die sie wiederum auf einen Hintergrund aus Biermarken übertragen hat. Ähnlich wie bei einem Meme-Template bleiben das Banner und die Fahnen der Demonstration aber weiß. Die Frage „Kommst du jetzt mit saufen, oder was?“, die Korbach dem kommunistischen Künstler in den Mund gelegt hat, scheint nicht nur eine Anspielung auf Immendorffs weiteren Lebenswandel nach seinem Ausstieg bei den K-Gruppen zu sein, sondern sie verweist auch auf eine gewisse Müdigkeit an der politischen Debattenkultur in den sozialen Medien. Nicht zuletzt in der Kunstszene erfreut es sich heute einer großen Beliebtheit, sich in den sozialen Medien eindeutig zu positionieren, egal ob es um geopolitische Konflikte oder um identitätspolitische Fragen geht. So scheint Immendorffs Frage „Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?“ heute allgegenwärtiger denn je zu sein. Korbach verweigert sich aber einer eindeutigen Positionierung. Stattdessen setzt sie in ihrer Ausstellung durch ihre Vielzahl von (kunst-)historischen Referenzen, die sie in ihren Collagen aufeinanderprallen lässt, auf Uneindeutigkeit und Bedeutungsoffenheit.
Julian Volz
MARTINETZ in Berlin
WO WIR SCHON MAL HIER SIND
Emma Adler, Rebekka Benzenberg, Cathrin Hoffmann, Jody Korbach, Mary-Audrey Ramirez, Sophia Süßmilch
2. - 4.5.2025
Emma Adler, Rebekka Benzenberg, Christian Eisenberger, Selma Gültoprak, Jody Korbach, Albert Mayr, Mary-Audrey Ramirez, Evamaria Schaller, Sophia Süßmilch
10
Curated by Johanna Adam, Hendrik Bündge and Nadia Ismail
15.02.25 - 12.4.25
Christian Eisenberger
MASSE UND MACHT
JÄGER UND SAMMLER
(Fällt das Feld dann fehlt das t)
9975-16932-41593
13.12.24 - 1.2.25
Rebekka Benzenberg + Magda Frauenberg
dont you get tired
Curated by Astrid Legge
05.05.2023 - 16.06.2023
Thomas Palme
ALLES. IST NICHT DAS, WAS ES IST
30.06. - 10.08.22
Jody Korbach | Sophia Süßmilch | Nouchka Wolf
KAPPA KAPPA CRINGE
Curated by Hendrik Bündge
19.03. – 13.05.2022
Louisa Clement, Christian Falsnaes, Šejla Kamerić, Mary-Audrey Ramirez + Max Kreis, Robert Sieg, Sophia Süßmilch
DIE GANZE WAHRHEIT
Curated by Johanna Adam
08.05. - 19.06.2021
Sophia Süßmilch
Gebenedeit sei die Frucht deines Leibes
04.09. - 05.11.2020
Thomas Palme
Nachtflug zur Venus | Night flight to Venus
06.06. - 31.07.2020
Albert Mayr
Äther Exercise
31.01. - 09.05.2020
Thomas Zipp
The Unknown (Flowers) & The Other Side
25.10.2019 – 11.01.2020
Mary-Audrey Ramirez
KILL THEM ALL AND COME BACK ALONE
06.09. – 18.10.2019
Selma Gültoprak
´Let´s not..´
06.07. – 16.08.2019
Evamaria Schaller
Becoming native
06.04. – 23.06.2019
Ben Kaufmann, Chrysanthi Koumianaki, Albert Mayr, Panos Papadopoulos
WE NEVER THOUGHT ABOUT DOCUMENTATION
10. – 29.03.2019
Christian Eisenberger
Superretrospektive
09.11.2018. – 18.01.2019
Thomas Palme
As a child I believed in Democracy
02.09. – 18.10.2018
Zuzanna Czebatul, Magdalena Kita, KLITCLIQUE, Alex McQuilkin, Mary-Audrey Ramirez, Grace Weaver
Girls 3000
Curated by Nelly Gawellek
07.06. – 20.07.2018
Panos Papadopoulos
drawing yourself into corners
19.04. – 31.05.2018
Ben Kaufmann
A4
24.2. – 6.4.2018
Christian Eisenberger, Marco Evaristti, Valie Export, Ronald Kodritsch, Albert Mayr, Annette Ruenzler, Jongsuk Yoon
Schall und Rauch
Curated by Hendrik Bündge + René Stessl
27.10.2017 – 26.01.2018
Albert Mayr
Ghost Notes
08.09. - 22.10.2017
Institut Avaroid, Wilson Diaz, Pjotr Pawlenski, Santiago Sierra, Zentrum für polische Schönheit
Closed universe (part 2)
Curated by Nadia Ismail
19.05. – 28.06.2017
Mary-Audrey Ramirez
Scrolling and crying
25.03. – 06.05.2017
Christian Eisenberger
Status Substantiv
20.01. – 04.03.2017
Kerstin von Gabain, Thea Moeller
El centro
04.11. – 16.12.2016
Thomas Palme
PALM-CAT 666
02.09. – 14.10.2016
Louisa Clement
The future looking back
03.06. – 15.07.2016
Panos Papadopoulos
Blank views
08.04. – 20.05.2016
Marc Aschenbrenner, Günter Brus, donhofer., Hermann Nitsch, Thomas Palme
Closed universe? (part 1)
Curated by Nadia Ismail + René Stessl
10.03. – 01.04.2016
Tina Schwarz
Monkey on My Back
15.01. – 04.03.2016
Evamaria Schaller
Desmodontinae
04.11. – 16.12.2015
Mary-Audrey Ramirez
Gekkering
16.10. – 13.11.2015
Christian Eisenberger
Kopf Verkopft Verklopft
05.06. – 17.07.2015
Ali Altin, Markus Bacher, Giorgio Dorigo, Andrew Gilbert, Markus Karstieß, Thomas Palme, Peyman Rahimi, Mary-Audrey Ramirez, Johanna Wagner
House of pain
Curated by Veit Loers
16.04. - 29.05.2015
Albert Mayr
Was soll ich Dir noch sagen
23.01. - 21.03.2015
© 2023 Petra Martinetz. Alle Rechte vorbehalten.
Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen
Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.